Die graue Welt der Farben

 


Die Welt war grau. Sehr grau. So grau wie ein Haufen Asche. Grauer als jede Maus. So grau wie ein Novembertag an dem die Farben so wenig Kraft haben, dass sie nur noch Menschen mit besonders guten Augen sehen können. Carlotta spazierte durch die Strassen. Graue Menschen überall. Graue Strassen, graue Häuser.
Sie lief in den Wald. Graue Bäume überall, graue Pflanzen, graue Tiere.
Sie lief zum Meer. Graues Wasser, graue Boote, graue Fische.
Sie ging zu Herrn Schneider. Grau. Alle Kleider von Herrn Schneider waren grau.
Sie ging zur Bäckerin. Nur Graubrot, stand an der Tür.
Sie ging zur Gärtnerei. Alles grau. Nur graue Pflanzen im Angebot.
Der Wetterbericht verkündete graues Wetter, im Kino liefen nur grauenvolle Filme, im Restaurant gab es nur graues Essen.
Der Himmel war so grau dass man den Tag kaum von der Nacht unterscheiden konnte und die Sterne waren so grau, dass man sie kaum sah.
Es war grauenhaft grauslich gräulich.
„Entschuldigung, wo finde ich grün?“ fragte sie einen vorbeieilenden Mann. „Grün?“ sagte der Mann. „Kenn ich nicht.“ und eilte weiter.
„Entschuldigung, wo finde ich rot?“ fragte sie eine vorbeieilende Frau.
„Rot?“ sagte die Frau und ihre Wangen leuchteten kurz auf. „Rot?“ Sagte sie noch einmal. Dann eilte sie weiter.
„Kannst du mir sagen, wo ich gelb finde?“ fragte sie einen kleinen Jungen, der lustlos auf einem Roller herumfuhr.
„Gelb?“ Fragte er. „Gelb?“ und seine müden Augen begannen zu leuchten. Er blickte zum Himmel auf und lächelte. Er schaute Carlotta forschend an. Dann begann er zu weinen. „Gelb!“ schluchzte er und fuhr auf seinem Roller davon.
Carlotta blieb stehen. Sie schaute sich um. „Da gab es doch noch was. Noch eine andere Farbe.“
Auf einmal klingelte etwas. Ganz zart nur. Carlotta spitze ihre Ohren um genauer zu hören. Von Ferne her, jetzt vernahm sie es ganz deutlich, ein klingeln, ein Glockenton…und da wusste sie plötzlich, dass sie in den Himmel steigen musste. Also stieg sie in den Himmel. Dort stand sie, fest angebunden, mit verschnürtem Maul: die Wasserkuh. Ihr Euter schien fast zu platzen und ihre Augen traten weit hervor so stark und mit so viel Kraft versuchte sie sich loszureißen vom Pfahl an dem sie festgebunden war und je näher Carlotta ihr kam, desto lauter wurde das Klingen der Glocke um den Hals der Kuh. Carlotta rannte zu ihr, um sie loszubinden. Und sobald sie auch ihr Maul befreit hatte schrie die Kuh aus Leibeskräften. Carlotta fiel um vor Schreck, so laut schrie die Kuh und immer noch lauter. Carlotta sah, dass das Euter der Kuh voll war bis zum zerbersten voll. Kein Wunder, dass sie so laut schrie. Carlotta machte sich also daran die Kuh zu melken. Da sie kein Gefäß hatte, um die Milch aufzufangen, melkte sie sie einfach so. Wahrscheinlich ist die Milch eh verdorben, so dachte sie. Aber die Milch war nicht verdorben. Es war nämlich gar keine Milch. Es war Wasser. Pures reines Wasser, das aus der Kuh herauskam und Carlotta melkte und melkte bis ihr fast die Finger abfielen und das Wasser lief und lief heraus und auf der Erde regnete es und regnete und es regnete noch grauer als sonst, was sich keiner erklären konnte doch nach einigen Stunden war Carlotta fertig. Sowohl sie als auch die Kuh waren sehr erschöpft. Sie waren so erschöpft dass sie beide in einen tiefen Schlaf verfielen. Auf der Erde regnete es noch immer und regnete und regnete und es bildeten sich graue Schlammpfützen überall und den Menschen tropfte es grau aus den Ohren und aus den Haaren und in die Krägen. Niemand konnte sich erklären, was geschehen war. Es hatte schon so lange nicht mehr geregnet auf der Erde. Plötzlich schreckte Carlotta aus ihrem Traum hoch. Irgendwas war anders. Sie hatte so ein eigenartiges Gefühl in der Brust. Als ob plötzlich mehr Platz wäre. Sie stand auf, die Kuh lag immer noch da und schlief aber auch an ihr schien sich etwas verändert zu haben.
Es war still. Es war so unglaublich still um sie her und plötzlich bemerkte sie, dass es auch auf der Erde still war. Das geschäftige Treiben hatte aufgehört. Alles war stehen geblieben, still geblieben. Sie blickte nach unten und erschrak, denn alle Menschen der ganzen Welt blickten zu ihr auf. Alle standen mit offenen Mündern da und blickten nach oben. Carlotta wollte sich in der grauen Wolke aus der sie hervorsah verkriechen. Aber was war das. Die Wolke war nicht mehr grau. Sie war weiß. So weiß, dass Carlotta davon geblendet wurde. Sie wollte sich woanders verstecken sich im Grau des Himmels ausruhen aber was war das? Der Himmel war blau. Strahlend blau. Die Menschen blickten also gar nicht zu ihr, sondern sie blickten das Blau des Himmels an. „Blau!“ schrie sie vor Freude, das ist blau. Die Menschen kamen wieder zu sich. Blau sagten sie. Das ist blau. Und sie blickten einander an und stellten fest, dass so manch einer blaue Augen hatte und sie stellten fest, dass das Wasser des Meeres blau war und dass es Vögel mit blauen Federn gab und blaue Blumen. Das war der Tag den die Menschen das blaue Wunder nannten.
So hatte sich das Grau der Menschen also mit blau vermischt. Bald hatten sie sich an die graublaue Mischung gewöhnt und es war nichts Besonderes mehr. Alles war graublau, die Menschen eilten wieder durch die Gegend und schauten nicht links und nicht rechts und fast konnte man meinen, dass das blau bald wieder ganz im Grau verschwinden würde. Aber es gab einige Menschen die dafür kämpften dass das nicht passierte. Sie blickten immer wieder schweigend zum Himmel auf und erfreuten sich an seinem blau und strahlten es den anderen Menschen wieder, damit sie die Erinnerung an das blaue Wundern nicht vergessen sollten.
Nachdem die Kuh lange und ausführlich geschlafen hatte, erwachte sie und ihr Euter war wieder prall gefüllt und Carlotta ging zu ihr um sie wieder zu melken. Diesmal hatte sie sich gut vorbereitet und einen Eimer mitgebracht. Sie begann also zu melken. Doch der Eimer war viel zu klein und lief schon bald über. Ach es ist doch eh nur Wasser dachte Carlotta, da regnet es eben wieder auf der Erde, was soll ich machen. Und sie melkte und melkte und es regnete und regnete und das Wasser lief und lief. Wieder verfiel Carlotta in einen tiefen Schlaf und wieder erwachte sie auf einmal plötzlich und ihr war als ob etwas anders sei. Ihr war so warm so wohlig wunderbar. Es war ähnlich still wie am Tag des blauen Wunders. Vorsichtig lugte sie aus ihrer Wolke hervor und sah, dass wieder alle Menschen mit offenen Mündern nach oben starrten. Sie sahen anders aus als sonst die Menschen, sie strahlten etwas aus, dass Carlotta nicht begriff nicht beschreiben konnte. Sie blickte auf ihre Wolke und stellte fest, dass diese nicht mehr weiß erstrahlte wie beim letzten Mal sondern in einem zarten rosa. Und sie blickte zum Himmel und sah dass sich in das blau ein tiefes rot gemischt hatte. Ein kräftiges rot, dass überall dort wo es sich mit dem blau des Himmels mischte violett wurde. Die Menschen jubelten auf und es wurden Feuer angezündet und in ihrem Schein tanzten die Menschen bis zum Morgengrauen. Ihre Wangen leuchteten rot und ihre Herzen pochten warm und es wurde ihnen heiß und alle hatten rote Köpfe so sehr sprangen und tanzten sie durch die Gegend.
Das war der Tag des roten Wunders sagten alle und auch dieser Tag wurde zum Festtag erklärt. Rot ist doch noch viel schöner als blau sagten viele. Aber nicht alle waren dieser Meinung und so fingen sie an zu streiten darüber welche Farbe die schönere sei, das rot oder das blau und es gab Kämpfe, weil jeder beweisen wollte, das die Farbe die ihm am besten gefiel auch eindeutig die schönere war. Viele sagten daraufhin, dass der Tag des roten Wunders kein Glück über die Menschen gebracht habe und dass doch alles besser gewesen sei als die Welt noch völlig grau war. Da habe man über so etwas wie Farbe nicht zu streiten gebraucht und habe einfach nur  im grauen Einheitsbrei gelebt und das sei doch viel angenehmer und geruhsamer gewesen.
Und eines Tages war es wieder so weit, die Kuh erwachte und ihr Euter war voll. Carlotta melkte sie und sie hatte diesmal auch daran gedacht einen zweiten Eimer mitzubringen. Irgendwie war die Kuh kleiner geworden schien ihr, aber sie konnte sich auch täuschen. Vielleicht war sie, Carlotta, nur einfach gewachsen in der langen Zeit, die die Kuh verschlafen hatte. Sie melkte also und melkte und auch der zweite Eimer war voll und wieder war zu viel Wasser in der Kuh so dass der zweite Eimer überlief und Carlotta melkte und melkte und melkte und melkte bis sie erschöpft und müde von ihrem Hocker fiel und in einen tiefen, langen Schlaf versank. Sie schlief und schlief und schlief und schlief und erwachte plötzlich mit einem Schlag, weil es um sie her so hell war. Sie blickte zum Himmel und sah dass aus dem rotviolett langsam orange wurde und langsam ganz langsam kam ihr ein Strahlen entgegen wie sie es noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Die Sonne strahlte, erstrahlte in so kräftigem gelb, dass Carlottas Augen dem nicht standhielten. Sie blickte zu Boden und sah, dass sie auf einer grünen Wiese saß auf der die Blumen in allen nur erdenklichen Farben erstrahlten und rund um sie herum lachten die Menschen. Sie lachten und freuten sich und blühten ebenso auf wie die Blumen. Sie lachten, weil sie lauter Dinge sahen die ihnen früher nie aufgefallen waren. Sie freuten sich an der Schönheit der Natur an den Farben in denen alles erstrahlte und feierten das Fest der Farben am Tag des gelben Wunders.
Carlotta blickte sich nach der Wasserkuh um doch diese war verschwunden und da fiel Carlotta überhaupt erst auf, dass sie gar nicht mehr im Himmel war sondern auf der Erde. Vielleicht hatte sie das alles nur geträumt? Neben ihr auf dem Boden sah sie drei randvoll mit Wasser gefüllte Eimer stehen. Das ist also alles was von dir übrig geblieben ist? Flüsterte sie leise. Sie nahm die Eimer und trug sie nach Hause.
Nach einer Weile hatten sich die Menschen so sehr an die Farben um sie herum gewöhnt, dass sie sie fast gar nicht mehr wahrnahmen. Sie waren geschäftig wie eh und je, das Fest des blauen Wunders wurde nur noch von wenigen begangen, am Fest des roten Wunders gab es immer Streit. Am Fest der Farben aber kamen viele Menschen zusammen. Farbbrillen wurden verteilt, die die Farben intensiver werden ließen, wenn man sie aufsetzte und das berauschte die Menschen und sie feierten ausgelassen. Es hatte aber zur Folge dass sie danach die Farben nur noch weniger wahrnahmen.  Irgendwann begann man auch am Tag des blauen Wunders blaue Farbbrillen zu verteilen, am Tag des roten Wunders rote Farbbrillen und manche Menschen gewöhnten sich so sehr an ihre Brillen, dass sie sie gar nicht mehr absetzen wollten. Sie gaben ein Vermögen aus um ständig neue Brillen einkaufen und aufsetzen zu können. Und je öfter sie die Brillen benutzten umso grauer wurde ihnen die Welt um sie her.
Und keiner konnte sagen wie es passiert war, eines Tages war die Welt tatsächlich wieder grau. Keine Farbbrille nutzte. Nichts. Carlotta war die einzige die die Farben noch sehen konnte und solange sie den Menschen von den Farben erzählte erinnerten sich einige auch noch daran, aber auch Carlottas Erinnerung fing durch ihr graues Umfeld an zu leiden und bald konnte auch sie sich nur noch dunkel an die Farben erinnern.  Sie hatte das Gefühl als weiche das Leben aus ihr heraus.
Als sie eines Tages erschöpft nach Hause kam fiel ihr Blick auf die drei Eimer, die das Wasser der Wasserkuh erhielten. Sie konnte sich jedoch nicht erinnern wo die Eimer hergekommen waren und wunderte sich nur, warum sie drei mit Wasser gefüllte Eimer in ihrer Wohnung herumstehen hatte. Also packte sie den ersten und goss ihn draußen vor ihr Haus. Ein Sturm hob an und Carlotta wurde in ihr Haus zurückgedrängt die Tür flog zu und Carlotta verfiel in tiefen Schlaf und als sie erwachte sah sie dass das blaue Wunder sich wiederholt hatte. Und die Menschen wussten plötzlich wieder, warum sie den Tag des blauen Wunders feierten. Das gleiche geschah auch mit den beiden anderen Eimern und so blühte das Leben mit den Farben wieder auf. Achtsamer wollten sie nun werden die Menschen und sorgsamer mit ihren Farben umgehen. Wissenschaftler bestimmten jede einzelne Farbe und man konnte Farbmalkästen kaufen und Philosophen schrieben über die Farben und man konnte ihre Bücher kaufen und manche beteten die Farben an und sie luden alle ein mit ihnen zu beten und man versuchte jedem Tag der Woche eine Farbe zuzuordnen, aber die Woche reichte nicht und man versuchte jedem Tag im Jahr eine Farbe zuzuordnen, doch die Tage reichten nicht und man versuchte jedem Tag in einem Menschenleben eine Farbe zuzuordnen aber die Tage reichten nicht und da sagte Carlotta: jeder soll jeden Tag eine neue Farbe entdecken  so lange er lebt. Und das taten die Menschen und waren von diesem Tag an glücklich!

Das Wesen Farbe

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