Die Meisterin


Ich bin ein paar Tage unterwegs. Als ich zurück nach Hause komme, finde ich einen Zettel des Zustellungsunternehmens vor auf dem mit Hand gekritzelt steht, ich solle mein Paket bei einer Nachbarin im Vorderhaus abholen. Ich kenne die Nachbarin. Ein Sozialfall, würde der Sozialarbeiter sagen. Man sieht ihr den langjährigen ungesunden Lebenswandel an. Ich habe keine große Lust bei ihr zu klingeln, obwohl sie immer freundlich und zugewandt ist - egal in welchem Zustand man sie antrifft.

Sie öffnet die Türe. Es riecht nach Rauch. Sie ist noch im Schlafanzug. Die Haare stehen ihr wild vom Kopf ab. Ich entschuldige mich dafür am Wochenende zu stören. "Aber das ist doch gar nicht schlimm", sagt sie. 

Sie hat einen ganzen Haufen Pakete in ihrem kleinen Flur herumstehen. Aus dem Zimmer höre ich ihren Mann husten. Der Fernseher läuft. Emsig bemüht sucht sie mit mir die Pakete durch, die bei ihr zwischengelagert wurden, um festzustellen welches zu mir soll. Ich habe Angst, sie könne nach vorne umfallen, wenn sie den Kopf so weit nach unten hält. Aber sie bleibt standhaft. 

Nach einigem Suchen finden wir das Paket. Sie drückt es mir glücklich in die Hand, winkt mir zu während ich die Wohnung verlasse und wünscht mir noch ein schönes Wochenende. Sie schielt dabei ein wenig, die Augen blicken glasig, aber sie ist aus tiefstem Herzen zugewandt, freundlich, höflich.

Ich gehe zurück zu unserer Wohnung und bin zutiefst bewegt von dieser Frau. Ich kann nicht sagen wie alt sie ist, noch weiß ich irgendetwas über ihr Leben, ihr Schicksal. Was mag dieser Frau nur passiert sein, grübele ich, wie übel hat ihr das Leben wohl mitgespielt? Wie ist sie zu der Frau geworden, die sie heute ist? 

Ich hänge fast schon mitleidigen Gedanken nach. Doch während ich diese Frau bedauere, fällt mir etwas sehr eindrückliches auf: Egal wie fertig sie ist, egal wie klar oder trunken, diese Frau bleibt immer stehen, wenn sie uns trifft und wünscht uns noch einen schönen Tag, ein schönes Wochenende, Frohe Weihnachten, Ostern oder oder oder. Egal ob es heiß ist oder kalt. Egal ob die Sonne scheint oder es regnet. Sie ist der Innbegriff der Liebenswürdigkeit. Sie stellt Verbindung her. Sie ist immer positiv. Immer. Ich glaube, ich kenne keinen Menschen außer ihr, der immer gute Laune hat. Immer freundlich ist, zugewandt. Wer bin ich, diese Frau zu bemitleiden, zu bedauern? Wer bin ich? Sie bringt Licht in eine dunkle Welt. Sie winkt uns immer zu wie ein freudiges Kind, sobald sie uns sieht und es ist ihr das größte Bedürfnis, uns immer alles Gute zu wünschen. Selbst wenn das Haus neben uns einstürzen würde, der größte Sturm alles um uns herum wegfegt oder es so stark regnet, dass jeder, der auch nur einen Moment stehen bleibt, nass bis auf die Knochen wird: diese Frau trotz jedem Widerstand und nimmt sich die Zeit, uns noch einen wunderschönen Tag zu wünschen und uns dabei zuzuwinken. 

Während ich die Treppen zu unserer Wohnung hochsteige wird mir klar: das ist alles andere als eine Frau, über die ich mich mit meinen mitleidigen Gedanken erheben darf. Sie ist eine Meisterin, eine Weise. Denn sie bringt jeden Tag Fröhlichkeit, Lachen, Verbindung und Sonne ins Leben. Sie grüßt nur. Nichts weiter. Aber mit jedem Gruß zeigt sie mir und der Welt, worauf es ankommt. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes liebenswürdig. Ich verneige mich vor ihr. Sie lässt mich erfahren, was wahre Größe ist.

 
 
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