Der neue Stern

 



Als die Mutter in den Wehen lag, kam der Punkt an dem sie nicht mehr konnte. Sie hatte alles gegeben: gestöhnt, geschrien, geschoben. Die Kraft schien sie zu verlassen. Sie fragte die Hebamme: „Ist der Weg noch weit?“ Und die Hebamme antwortete ihr: „Es ist noch ein Stück.“ 
Da wusste die Mutter, dass sie jetzt hinauf musste zu den Sternen, um ihr Kind zu holen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging los. Es war dunkel um sie. Finstere Nacht war es. Sie konnte nichts sehen. Nicht einmal ihre eigene Hand vor den Augen. Die Dunkelheit machte sie traurig. Sie zweifelte, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte, weil es gar so finster war um sie her. Doch sie hatte keine Angst. Sie lief und lief immer weiter. „Mein Herz kennt den Weg,“ dachte sie. „Mein Herz kennt den Weg zu dir, mein Stern.“ Und sie lief weiter. 
Die Dunkelheit wollte nicht enden. Sie lief und lief. „Und selbst wenn alle Kräfte schwinden sollten,“ dachte sie. „Ich werde dieses Kind holen. Das ist mein Auftrag. Daran führt kein Weg vorbei.“ 
Da lichtete sich das Dunkel ein wenig. Sie nahm um sich herum schemenhafte Gestalten wahr, die nach ihr griffen. Dunkle Gestalten, die von ihr gesehen werden, sie aufhalten wollten. Angstvolle Gestalten, die nicht glaubten, dass am Ende jeder Dunkelheit ein Licht brennt. Sie wusste, dass sie diesen Gestalten nicht helfen konnte, außer wenn sie immer weiter schritt, einfach immer weiter ginge. 
„Sie können es mir gleich tun, wenn sie wollen,“ dachte die Mutter. „Aber ich kann den Weg nicht für sie gehen. Wozu haben sie eigene Füße?“ Und sie lief weiter. 
Dunkles Dickicht erschien vor ihr, wollte ihr den Weg versperren. Die Mutter achtete nicht darauf. Sie ging einfach weiter und immer weiter. Sie wollte sich nicht aufhalten lassen. Von Nichts und Niemandem. Und da sie weiter voran schritt, verschwand das Dickicht, machte ihr Platz, damit sie weiter laufen konnte. Es säumte ab sofort ihren Weg rechts und links und hielt die dunklen Gestalten von ihr fern. Das war die Liebe des Dickichts zu ihr. Es hatte ihr den Weg versperren wollen, doch die Furchtlosigkeit der Mutter hatte es demütig gemacht und hilfsbereit. 
Langsam lichtete sich das Dunkel immer mehr. Doch je heller es zu werden schien, desto trüber wurde der Blick der Mutter. Aber nein, es war nicht der Blick der Mutter, der sich trübte. Es kam Nebel auf. Nebel, der ihr die Sicht nehmen, sie verwirren wollte. Die Mutter schritt ohne Furcht in den Nebel hinein und da sie auch hier so frei von Angst weiterging, konnte das Dickicht ihr weiter beistehen und ihr den Weg weisen. 
Kurz bevor sie ihren Fuß in das weite Firmament setzten sollte, verließ sie plötzlich der Mut. Alles brach auf einmal über sie herein. Die Gestalten griffen wieder nach ihr. Das Dickicht wurde immer enger und schien sie erdrücken zu wollen. Der Nebel wurde so dicht, dass er ihr nicht nur die Sicht, sondern auch die Kraft zum atmen nahm. Sie war kurz davor aufzugeben, sich hinzuwerfen und nur noch zu weinen, weil sie dachte, sie habe es nicht geschafft und sie werde es nicht mehr schaffen, ihr Kind von den Sternen zu holen. 
Da spürte sie die Hand des Vaters in ihrer. Sie spürte wie er ihre Hand hielt und bei ihr war. Das gab ihr neue Kraft. Sie raffte sich auf. Das Dickicht verschwand, die Gestalten lösten sich in Rauch auf und der Nebel teilte sich. Wieder war um sie her alles dunkel. 
Dunkler Raum. Unendliche Weite. Das konnte sie spüren. Und obwohl es dunkel war, konnte sie sehen. 
Es war eine Dunkelheit, die kein Auge durchdringen konnte, aber mit dem Herzen vermochte sie auf andere Art und Weise zu sehen. Sie fühlte in der Dunkelheit ein kleines Licht. Sie konnte es nicht sehen, aber sie fühlte es. Sie fühlte wie es langsam anfing zu strahlen. Wie ein kleines Lächeln, das sich behutsam auf sie zu bewegte. Es wurde immer stärker, dieses Gefühl, immer kraftvoller. Es kam immer näher und gleichzeitig floss es aus ihr heraus. Ein Lächeln, ein Strahlen. Alles vermischte sich, alles leuchtete und alles war Freude und Licht. 
„Da bist du ja,“ sagte die Mutter. „Da bist du ja endlich. Wir haben so lange auf dich gewartet. So lange.“ Sie hielt ihr Kindlein in den Armen, schaute es mit liebenden Augen an und wiederholte immer wieder: „Da bist du ja endlich. So lange haben wir auf dich gewartet.“ 
Auch der Vater blickte auf sein Kind. Beide schienen verzaubert, still und ehrfürchtig vor diesem kleinen Wunder, das sie hier in Händen hielten. 
Das Kind atmete nicht und sagte auch nichts. Aber sein Herz strahlte und war in Einklang mit den Herzen seiner Eltern. So wie die Eltern, so schwamm auch das Kind in Liebe, in bedingungsloser Liebe. Das ganze Universum füllte sich an mit der Liebe, die diese drei verband. Sie durchspülte und reinigte das Firmament, um dann an der dunkelsten Stelle aufzuflammen, sich zusammen zu ballen, zu verdichten, sichtbar zu werden als Stern. 
In der dunkelsten Ecke des Firmaments, wo zuvor nie jemand hinwollte, war ein neuer Stern geboren. Die Mutter hatte furchtlos ihren Weg angetreten in diese Dunkelheit, in die sich bisher noch niemand hineingetraut hatte. Der Vater war ihr die ganze Zeit zur Seite gestanden. Und jetzt leuchtete dort oben ein neuer Stern. Kraftvoll, machtvoll, liebevoll leuchtete er. 
Das Kindchen in den Armen der Eltern bewegte sich nicht. Es atmete nicht. Es hatte seine Augen verschlossen. Aber aus der Tiefe des Raumes erschien ein Leuchten, das die ganze Welt heller machte. Freundlicher. Liebevoller. 

 
 
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