Sicherheit und Vertrauen
Aufgrund der modernen Medizin – durch die man Leben sehr lange aufrechterhalten kann – ist es eine wirklich schwierige Frage, welches Leben wir als »lebenswert« einstufen. Vor welch übermenschliche Aufgabe werden wir gestellt, wenn wir die Verantwortung haben, das für jemand anderen entscheiden zu sollen? Ich bin der Überzeugung, dass wir untereinander verbunden sind und daher mehr wissen, als wir glauben. Es geht darum die Sinne zu schärfen für die Sprache des Herzens, ins Spüren zu kommen. Es sind unsere Herzen, die uns miteinander verbinden.
Schwangere Frauen bringt die moderne Medizin in eine scheinbar komfortable, abgesicherte, gleichzeitig aber auch in eine sehr missliche Lage. Wir geben unseren Körper ab an die Ärzte. Sie überwachen, kontrollieren, nehmen Blut ab, machen Ultraschall und sagen uns, ob alles in Ordnung ist oder nicht. Das kann dazu führen, dass wir den Ärzten mehr vertrauen als unserem eigenen Gefühl. Aber wenn etwas entdeckt wird, das scheinbar nicht in Ordnung ist, dann bricht die große Panik aus. Was machen wir denn jetzt? Die Ärzte sind in Panik, die Frau kommt in Panik, der Partner ist in Panik. Alle haben Angst vor dem scheinbar Unabwendbaren. Denn wie soll man eine Entscheidung treffen, wenn man sich selbst nicht mehr fühlt oder dem eigenen Gefühl nicht mehr vertraut? Da die Frau nun mal diejenige ist, die das Kind in sich trägt, sind sie und ihr Gefühl jetzt natürlich gefragt. Plötzlich soll sie selbst entscheiden, weil die Ärzte ihr diese Entscheidung nicht abnehmen können und weil der Partner nicht so deutlich mit dem Kind verbunden ist wie sie selbst. Oft bekommt sie weder die Zeit noch den Beistand, zu ihrem Gefühl zurückzufinden, weil plötzlich alles schnell gehen muss.
Keine Frau möchte, dass ihr Kind leidet. Aber natürlich ist das der erste Gedanke, der einem durch den Kopf schießt: »Mein Kind leidet oder wird leiden. Wie kann ich das verhindern?« Die gute Nachricht ist, dass die Kinder, egal, welche Krankheit sie haben, im Bauch normalerweise nicht leiden. Die schlechte Nachricht: Selbst wenn ein Kind putzmunter und gesund zur Welt kommt, wird keine Mutter der Welt ihr Kind vor Schmerz und Leid im Lauf seines Lebens bewahren können.
Durch die vermeintliche Sicherheit, die uns von der Medizin vorgegaukelt wird, leben wir das Leben nicht mehr so, wie es kommt. Wir versuchen, alles im Vorhinein abzuwenden. Die Angst vor dem Risiko macht uns zu Sklaven. Zu Gefangenen unserer Angst vor dem Leben. Aber das Leben entzieht sich, wenn wir alles absichern. Wir hören auf, Freude zu empfinden, auszuprobieren. Warum sind wir als junge Menschen denn so viel experimentierfreudiger, aufgeschlossener, unvorsichtiger? Weil wir noch nicht so viel Erfahrung und dadurch noch nicht so viel Angst, gleichzeitig aber auch mehr sogenanntes Gottvertrauen haben. Dieses Vertrauen in den Fluss des Lebens ermöglicht uns Hingabe.
Hätte mir jemand vor der Schwangerschaft gesagt, was auf mich zukommt, wer weiß, ob ich mich jemals dazu entschieden hätte, überhaupt schwanger zu werden. Wahrscheinlich nicht. Ehrlicherweise nicht, um meinem Kind Schmerz zu ersparen, sondern um meiner selbst willen. Meine Angst wäre zu groß gewesen. Die Angst vor dem scheinbar Unausweichlichen.
Als ich für eine Theaterkoproduktion eine Weile in Brasilien war, konnte ich sehr gut sehen, wohin der Sicherheitswahn auch im Leben führen kann. Aus Angst vor Überfällen ist jedes Haus mit einer Mauer umzäunt, auf der Glasscherben angebracht sind oder über welche Stacheldraht gespannt wird wie bei einem Hochsicherheitstrakt. Ganze Siedlungen schirmen sich durch Mauern und Sicherheitsmänner vom Rest der Welt ab. Selbst in den Favelas, den Armenvierteln rund um die großen Städte, bauen die Menschen Mauern um ihre Häuser. Sogar wenn sie in nicht mehr als einem Karton wohnen, wird dieser mit Stacheldraht umzäunt.
Während wir von Menschen, die nichts hatten, eingeladen und bewirtet wurden, raubten Nachbarn unser Haus aus. Trotz Mauern, Glasscherben und abgeschlossener Haustür. Die herbeigerufene Polizei meinte dazu nur: »Was haben sie denn erwartet? Deutsche in der Gegend?« Es war offensichtlich, wer eingebrochen hatte. Die Leiter, mit der unsere Nachbarn, die vorher bereits unseren Strom angezapft hatten, über die Mauer gestiegen waren, stand noch da. Aber die Polizei weigerte sich, sie zu stellen. Unsere Nachbarn waren polizeibekannt, und die Polizisten hatten Angst vor ihnen.
Was bringt uns also diese vermeintliche Sicherheit?
Inzwischen stehen selbst hier an jeder Straßenecke Kameras, in jedem Laden, ja sogar in vielen Restaurants. Trotzdem werden nicht alle Morde, Vergewaltigungen, Diebstähle verhindert oder aufgeklärt. Wozu also gaukeln wir uns Sicherheit vor? Eine Lebensversicherung wird trotz des vielversprechenden Namens unseren Tod nicht verhindern. Denn das Einzige, was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir eines Tages geboren und eines Tages sterben werden.
Was bringt es uns also, wenn wir der Medizin mehr vertrauen als dem eigenen Gefühl zu unserem Körper? Die Vorsorgeuntersuchungen, denen wir Frauen uns in der Schwangerschaft unterziehen, gaukeln uns Sicherheit vor. Aber sie entfremden uns auch von unserem Gefühl. Plötzlich ersetzt die Kontrolle von außen das Spüren von innen. Worauf sollen wir uns nun verlassen?
Einer Kollegin wurde mit dem Jugendamt gedroht, wenn sie ihr Kind, das nicht mehr weiter wachsen wollte, nicht sofort auf die Welt bringen würde. Als Mutter hatte sie aber das Gefühl, es ist alles in Ordnung. Sie wollte ihr Kind in Ruhe im Bauch lassen, bis es selbst entschied, nach draußen kommen zu wollen. Zum Glück hat auch sie, nach einer längeren Odyssee, den Weg nach Havelhöhe gefunden und wurde dort gehört und begleitet.
Warum wiegen wir uns mehr in Sicherheit, wenn ein Apparat uns sagt, alles sei in Ordnung, als wenn die Mutter das fühlt? Woher nehmen sich die Ärzte das Recht, besser zu wissen als wir, was in unserem Körper passiert? Niemand kennt den eigenen Körper besser als wir selbst. Und wenn wir ihn nicht fühlen, uns selbst nicht vertrauen, ist es ratsamer, sich mit Körperarbeit zu beschäftigen, als zum Arzt zu gehen.
Es gibt immer die Chance auf das zu schauen, was uns von uns trennt. Wir sind in der glücklichen Lage, dass es heute eine Vielzahl an Möglichkeiten gibt, mit uns zu arbeiten, mit uns selbst in Kontakt zu kommen, Dinge aufzulösen, uns zu entwickeln. Aber hingehen müssen wir selbst.
In einem meiner Lieblingsbücher, »Die Entdeckung der Langsamkeit« von Sten Nadolny, gibt es eine Stelle, die mich immer schon besonders berührt hat:
»Den Schäfer gab es noch, den Langschläfer und Rebellen. Er stand im White Hart Inn an der Theke und ließ nichts gelten. >In der Welt herumkommen? Dazu brauche ich kein Schiff<, sagte er, >die Erde dreht sich doch von selber.< John nahm das geduldig hin. >Du drehst dich aber mit<, antwortete er, >also bleibst du, wo du bist.< Der Schäfer kicherte: >Die Füße musst du schon heben!<«
Dieser Text war ebenso wie der Text, den ich unter dem Titel "Das Wesentliche" auf diesem Blog veröffentlicht habe, Teil meines Buches "Willkommen und Lebewohl - Eine Liebeserklärung an mein Sternenkind". Dass ich mich entschieden habe beide Texte hier doch noch zu veröffentlichen, hat damit zu tun, dass mir die Botschaft, die darin steckt sehr wichtig ist - auch wenn das Buch einen anderen Weg einschlagen wollte.