Hinzens Angst und Kunzens Furcht



Herr Hinz hat furchtbar große Angst vor dem Dunkeln. Hinter jeder Ecke im Keller vermutet er einen Mörder mit einem langen Messer oder ein wildes Tier. Er kann sich nicht im Dunkeln aufhalten, weil er sonst schier verrückt wird vor Angst. Was ihm aber gar nichts ausmacht ist, wenn er auf einer Bühne vor bis zu 100.000 Menschen im Rampenlicht steht. 
Herr Kunz wiederum hat enorme Furcht davor angeschaut zu werden. Er bringt kaum Worte über die Lippen, wenn mehr als ein paar Menschen im Raum sind, kann sich dann nur schwer artikulieren und beginnt vor Angst zu stottern. In der Dunkelheit hingegen fühlt er sich geborgen, geschützt. Er kann nachts alleine durch den Wald laufen, Vorräte aus dem Keller holen, ohne Licht anzumachen. Das stört ihn alles nicht im Geringsten. In der Dunkelheit fühlt er sich wohl und zuhause. 
Als sich die Beiden zum ersten Mal im Leben begegnen – keiner weiß genau wie es dazu kommen konnte – beginnen sie sich zu unterhalten. Herr Hinz sagt: „Es gibt nichts schrecklicheres als im Dunkeln zu sein. Hinter jeder Ecke könnte mir ein Mörder mit einem langen Messer auflauern oder ein wildes Tier.“
Herr Kunz lacht daraufhin und sagt: „Wo sollen denn im Keller wilde Tiere herkommen? Wie soll sich denn ein Mörder Zugang zu Ihrem Keller verschaffen, Herr Hinz? Und warum soll denn überhaupt jemand Ihnen ans Leder wollen? Das ist wirklich lustig. Wie kann man denn vor so etwas Angst haben? Das kommt mir etwas kindlich vor. Davor muss man doch wirklich keine Angst haben. Beunruhigend ist, wenn man vor einer großen Menschenmenge steht. Alle schauen einen an und haben große Erwartungen. Man darf keine Fehler machen und wenn man etwas sagt, was den Menschen nicht gefällt, dann wird man auf dem öffentlichen Platz wahrscheinlich gesteinigt oder gelyncht. Das ist wirklich bedrohlich. So einer Gefahr würde ich mich nie aussetzen.“
Nun lacht Herr Hinz und sagt: „Also wissen Sie, das ist doch wirklich ein Kinderspiel. Nichts leichter als das. Niemand hat mich je gelyncht, wenn ich auf einer großen Bühne stand. Die Menschen jubeln mir zu, beklatschen, was ich sage und diejenigen, die mich ausbuhen, die feuern mich nur noch mehr an, denn auch sie möchte ich noch begeistern für das, was ich zu sagen habe. Also davor muss man doch wirklich keine Angst haben. Jemand, der vor so etwas Angst hat, kommt mir wirklich zu dumm vor. Wie kann man denn Angst vor dem Licht haben. Im Licht ist es hell und schön.“
Herr Kunz wird jetzt wütend, weil Herr Hinz sich über ihn lustig zu machen scheint. „Das ist doch wohl die Höhe!“ ruft er. „Wie kann man nur so egozentrisch sein und sich selbst die ganze Zeit feiern und drehen in seinem eigenen Glanz. Sie könnten ruhig ein wenig mehr Verständnis für mich zeigen, der ich das nicht kann. Viele Menschen sind schon auf offenen Bühnen erschossen worden, das können Sie alles nachlesen, wenn Sie nur ein kleines bisschen recherchieren. Und überhaupt sind Sie doch der größte Angsthase von allen, wenn Sie sich nicht mal in Ihren eigenen Keller trauen. Und so jemand sagt mir, ich sei kindisch. Also das ist schon wirklich allerhand. Wissen Sie, was Sie sind? Eine selbstverliebte Rampensau.“
Da fühlt sich wiederum Herr Kunz beleidigt und sagt: „Ich soll eine Rampensau sein? Dabei mache ich nur den Job vor dem Sie Angst haben. Sie sollten mir eigentlich dankbar dafür sein, dass ich für Sie ins Rampenlicht gehe, dass ich Ihnen den Job abnehme, damit Sie ihn nicht erledigen müssen. Aber Sie gehen ja lieber in den Keller und muffeln dort alleine vor sich hin. Sie verstecken sich im Dunkeln und wenn ich mich dann doch mal kurz eine Stufe die Kellertreppe hinunterwagen sollte, dann sind Sie wahrscheinlich der erste, der mir einen Schlag aus dem Hinterhalt versetzt. Genau. Hinterhältig sind Sie. Das kennt man ja. So seid ihr doch alle. Ihr, die ihr euch nicht zeigt und euch so gerne im Dunkeln versteckt. Alles ein und dieselbe Sauce. Mir vorwerfen, ich würde mich in meinem Glanz suhlen und selbst nicht den Mut haben, sich auf eine Bühne zu stellen und der Kritik auszusetzen. Das nenn ich mal wirklich eine hinterhältige Kellerassel.“
Dann stieben die beiden auseinander und jeder bespricht sich zu Hause mit seinen Freunden.
„Weißt du was?“, erzählt Herr Hinz einem Freund. „Da spreche ich heute mit dieser selbstverliebten Rampensau namens Kunz und er nennt mich eine hinterhältige Kellerassel. Das ist doch Gipfel der Unverfrorenheit.“
„Weißt du was?“ erzählt parallel Herr Kunz einem Freund.  „Da beschimpft mich diese hinterhältige Kellerassel als selbstverliebte Rampensau. Das ist doch die größte Unverschämtheit, die mir je begegnet ist.“
Und die Freunde von Herrn Kunz sind völlig davon überzeugt, dass Herr Hinz eine hinterhältige Kellerassel sein muss. Anders kann es nicht sein. 
Und die Freunde des Herrn Hinz sind sich einig darüber, dass Herr Kunz eine selbstverliebte Rampensau sei. 
Das ganze zieht immer größere Kreise. Die Menschen um Herrn Hinz hocken zusammen im Dunkeln und wiederholen sich immer wieder, dass wirklich alles gut und schön ist, aber dass sie alle doch auf keinen Fall selbstverliebte Rampensäue sein wollen. Denn niemand möchte so ein Angsthase sein.
Die Menschen um Herrn Kunz sind sich einig darüber, dass man auf keinen Fall zu den Kellerasseln gehören möchte. Man will ja nicht so kindisch sein.
Sowohl in dem einen wie auch in dem anderen Kreis, tauchen von Zeit zu Zeit Menschen auf, die das anders sehen. Sie finden, dass jemand vielleicht nicht nur selbstverliebt ist, wenn er auf die Bühne geht, sondern vielleicht wirklich etwas zu sagen hat. Nein. So etwas möchte man im Umfeld von Herrn Hinz nicht hören. Da soll derjenige doch einfach zu den Rampensäuen gehen, wenn er sich dort wohler fühlt. Im Keller ist für so jemanden kein Platz mehr 
Doch auch um Herrn Kunz gibt es manche, die finden, dass man von jemandem, der keine Angst im Dunkeln hat doch durchaus noch etwas lernen kann. 
„Ja, dann geh doch zu den Kellerasseln.“ ruft man dieser Person dann unter lautem Gelächter zu. „Du kannst ja sehen, ob du da noch etwas lernst.“
So geht das immer weiter. Die einen hocken im Keller und raunen sich zu, wie furchtbar beängstigend es ist auf Bühnen zu gehen und dass man das nie und nimmer tun wird und die anderen sammeln sich auf allen Bühnen dieser Welt und schimpfen auf Menschen, die Angst im Dunkeln haben. 
Manchmal verirrt sich noch der eine oder andere ins gegenseitige Lager, aber irgendwann hört auch das auf. Diejenigen, die zu vermitteln versuchen und ab und zu mal auf einer Bühne stehen und dann auch gerne mal wieder mit den anderen zusammen im Keller hocken, verstehen nicht, wieso man nicht auch beides machen kann. Mal im Dunkeln zusammensitzen und dann mal wieder auf der Bühne im Rampenlicht stehen. 
So kommt es eines Tages wie es kommen muss. All diejenigen für die Keller und Bühne keinen Widerspruch darstellen, sammeln sich inzwischen an einem Ort in der Natur. Sie stellen ein großes Schild vor diesem Ort auf, auf welchem steht: „Hier darf jeder nach seiner Façon selig werden“. Jeder macht das, was er am Besten kann und wenn man an einer Stelle nicht weiterkommt und weiß, dass jemand anderer das besser kann, dann geht man zu demjenigen und fragt ihn. 
Und was machen Hinz und Kunz? Herr Hinz hockt immer noch im Keller und erzählt den wenigen, die noch zu ihm kommen Schlechtigkeiten über die Ängste von Herrn Kunz. Und Herr Kunz steht auf immer kleiner werdenden Bühnen und erzählt allen, die eh das gleiche denken wie er, wie unsinnig es ist, im Rampenlicht Angst zu haben. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann machen sie das noch heute während alle anderen längst nach ihrer eigenen Façon selig werden. 

 
 
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