Bequemlichkeitsliebend und flügge

 Als ich klein war gab es in Restaurants immer diese kleinen Zuckerheftchen aus Papier auf denen die unterschiedlichen Sternzeichen abgedruckt waren. Wenn mein Vater sich einen Espresso bestellte, musste er mir das Zuckerpäckchen sofort zeigen, bevor er es aufriss. Es standen meist nur so drei oder vier charakteristische Merkmale zum jeweiligen Tierkreiszeichen darauf. Alle waren durchweg positiv formuliert. Da standen solche Sachen wie tatkräftig, bodenständig, einfühlsam. Nur bei meinem Sternzeichen – Waage – war stets eine der Eigenschaften, die erstmal negativ klang: faul, bequemlichkeitsliebend, geruhsam oder so etwas ähnliches. Meine Mutter juchzte dann immer auf und fand das unglaublich passend und sagte das mit einem Unterton, der mich schlussfolgern ließ, dass Bequemlichkeitsliebe etwas Schlimmes ist und dass man alles sein darf nur nicht bequemlichkeitsliebend. Meistens lachte sie dazu auch noch laut auf in einer Art und Weise wie ich nicht wollte, dass jemand über mich lacht, schon gar nicht meine Mutter.  

Wenn wir in der Familie zu Mittag aßen waren alle außer mir immer ratzfatz fertig.  Am Schnellsten aßen mein Vater und mein Bruder, kurz gefolgt von meiner Mutter. Und weil alle etwas anderes zu tun hatten als stundenlang zu warten bis die Kleinste aufgegessen hatte, saß ich dann manchmal noch alleine am Tisch während schon aufgeräumt, abgespült oder weggeputzt wurde und mümmelte an meinem Essen. Das machte nicht besonders viel Freude. Also begann ich irgendwann schneller zu essen und immer schneller. Ich wollte nicht alleine am Tisch vor meinem Teller sitzen. Über die Zeit begann ich auch schneller zu sprechen. Auch mir sollte zugehört werden und dafür durfte eben alles nicht so lange dauern. Sobald sich eine Bequemlichkeit einschleichen wollte begann ich sofort irgendetwas zu tun. Egal was. Oft war das nur reiner Aktionsmus. Egal. Hauptsache etwas tun. Immer in Bewegung sein. Was ich über die Jahre gar nicht merkte war, dass ich mich immer mehr von mir selbst entfernte. Inzwischen sprach ich so schnell, dass die kleine Tochter einer Freundin irgendwann ganz verzweifelt ihre Mama anschaute und sagte: „Ich versteh die nicht, die redet so schnell.“ Ich aß so schnell, dass ich ständig von Blähungen geplagt wurde und ich gönnte mir keine Pause mehr, weil Pausen nur von faulen, bequemlichkeitsliebenden Menschen gemacht werden.

Der einzige Ort an dem ich mir erlaubte mich zu entspannen war das Ferienhaus unserer Familie. Allerdings auch nur wenn ich dort alleine war. Sonst konnte es schon mal passieren, dass ich mit den unterschiedlichsten Dingen beauftragt wurde, die zu erledigen wären. Wenn ich alleine dorthin kam, setzte ich mich erstmal hin und schaute ausführlich auf den See, ließ meinen Gedanken freien Lauf, tauchte ein in die Natur, die Stille. Kaum hatte ich das ein zwei Tage gemacht schon sprudelte mein Kopf vor Ideen und ich kam gar nicht mehr hinterher alles aufzuschreiben, alle Ideen festzuhalten, die mir in den Kopf kamen. Meine Schlussfolgerung daraus war: nur dort kann ich schreiben, nur dort komme ich in mein Kraft, nur dort bin ich ganz, nur dort bin ich mit meiner Kreativität verbunden. Ich brauche diesen Ort wie die Luft zum atmen.

Wie es der dumme Zufall so will, wurde ich unsanft aus dem Nest geschubst. Es gab den Ort für mich plötzlich nicht mehr. Ich musste flügge werden und losfliegen. Alleine. Mir meinen eigenen Ort der Ruhe suchen, meinen eigenen Ort des Erschaffens, Erfindens, Schreibens.
Und gerade während ich das aufschreibe, werden die Tauben vor unserem Fenster flügge. Ja ist denn das die Möglichkeit? Auf einmal fliegt eines der beiden Täubchen gegen das Küchenfenster, will hier rein zu mir. »Was willst du denn hier drin, mein Täubchen? Flieg, flieg in die weite Welt.« Wahrscheinlich will es zu den Sonnenblumenkernen, die wir den Winter über auf dem Balkonkasten stehen hatten. Mama Taube hat sich dort immer bedient, damit sie nicht so weit weg musste von ihren Kleinen, sie immer im Blick hatte.
Nun sitzt also dieses Täubchen mit klopfendem Herzen unter dem Rosmarin und kommt nicht mehr richtig ins fliegen, weil es seine Flügel dort gar nicht ausbreiten kann. So eng ist es dort. Verzweifelt rede ich der Taube gut zu, will sie ermuntern, es einfach noch einmal zu versuchen. Loszufliegen. Hoch in die Lüfte. Nicht gegen unser Fenster. Ich danke ihr dafür, dass sie mir zeigt wie es sein kann, wenn man fliegen lernt. Die Flügel weit macht und den Geist. Sich ausdehnt und sich über das Nest der Eltern hinaushebt.
Als es ihr so gar nicht gelingen will wieder loszufliegen, hole ich George zu Hilfe: »Eines der Täubchen ist zu uns geflogen, es quetscht sich ein zwischen dem Fenster und den Kräutern.« Er öffnet das Fenster und schubst die Taube ein bisschen an. „Flieg Täubchen, flieg“, sagt auch er. Aber nein. Sie will nicht. Sie will lieber eingequetscht bei uns sitzen bleiben, sich vielleicht von dem ersten Schock des flüggewerdens erholen. Die Taube linst zum Futter hin, aber kommt einfach nicht am dicken Rosmarin vorbei, ohne sich erneut einzuquetschen. Irgendwann denken wir, sie wird sich immer wieder verhaken, wenn wir sie nicht in die Luft werfen, damit sie ihre Flügel ausbreiten kann. George fragt mich, ob ich das machen möchte. Aber ich traue mich nicht die Taube anzufassen. Er holt weiche Handschuhe, motiviert mich noch einmal. „Nein, ich trau mich nicht. Mach du.“ Als alles schieben und gut zureden nicht hilft, nimmt er das Täubchen und wirft es in die Luft. Es fliegt los, will auf dem Balkon der Nachbarin landen, kann sich nicht halten, flattert wieder los, diesmal nach unten auf den Boden. Kurz danach kommen Mama und Papa Taube. »Wo wart ihr denn die ganze Zeit?« Das Täubchen hat sich inzwischen unter der Spielkiste der Nachbarskinder im Hof versteckt. Erstmal ausruhen. Dann geht alles leichter. Ruh dich aus, mein Täubchen. Und dann flieg. Mach dich auf in die Welt. Sie wartet auf dich.



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